IMPRO 2016: A Place To Be war unpolitisch

von Sören Boller:

Internationales Festival Impro 2016 BerlinBERLIN – Mit über 100 Gästen war die Show „A Place to be“ fast ausverkauft am Montagabend, den 14.03.16 im English Theatre Berlin. Als eine von drei Shows mit diesem Titel beim diesjährigen internationalen Improfestival in Berlin war das Format selbst nicht weiter angekündigt. Klar war allerdings, dass die Themen Flucht und Grenzen im Mittelpunkt des Festivals, aber auch speziell dieser drei Shows stehen sollten.

Thomas Chemnitz (Die Gorillas, Berlin) kündigte dem gespannten Publikum das Experiment „politisches Improvisationstheater“ an. Dafür übergab er die weitere Moderation und das 12-köpfige Festivalensemble an Lucien Bourjeily, der zusammen mit Farah Shaer von Impro Beirut, sowohl die Festivalworkshops zum Thema politische Improvisation, als auch zusammen mit dem Festivalensemble gemeinsame Sessions geleitet hatte. Lucien Bourjeily erklärte im Folgenden den weiteren Verlauf den Abends: Es sollte eine Superszene mit vier Regisseuren und Geschichten gespielt werden, wobei nach jedem Durchgang eine Geschichte vom Publikum abgewählt wird und so nur eine Geschichte übrig bleibt am Ende. Das sehr bekannte Format erfuhr zum Zwecke der Politisierung dann noch zwei entscheidende Änderungen: Zum Einen bekam jeder Regisseur einer Szene einen zufällig vom Publikum ausgewählten Zeitungsartikel der letzten Woche zum Thema Flucht und Migration als Inspiration für die Geschichte und zum Anderen sollte das Publikum nicht blind eine Geschichte herauswählen, sondern diejenigen, die sie als besonders ehrlich und aufrichtig empfunden haben, im Rennen belassen.

Geschichten um Leben und Schicksal von Geflüchteten

Bereits an dieser Stelle offenbarte das Formate eine erste Schwachstelle: Der erste Regisseur bekommt einen mehrseitigen Artikel in die Hand gedrückt und steht allein auf der Bühne. Nach einigen wenigen Sekunden, in den er vielleicht die Überschrift und einen weiteren Satz erfassen konnte, begann er seine Inszenierung. Die anderen Regisseure taten es ihm gleich, so dass sie selbst nur während der Szenen Zeit hatten, um das Material wirklich zu lesen. Das hatte zwar den charmanten Effekt, dass die Geschichten sich in jedem Durchlauf stark veränderten, weil ihre jeweiligen Regisseure erst im Verlauf neue Hintergrundinformationen bekamen, andererseits dümpelte besonders die politische Dimension relativ lange ziellos vor sich hin.

Inspiriert von den ausgewählten Artikeln drehten sich alle Geschichten um Leben und Schicksal von Geflüchteten. Obwohl das Publikum zu keinem Zeitpunkt einen direkten Einblick in die Artikel erhielt, ging es in einem um eine Überlebende des zweiten Weltkriegs, die in einem Brief an ein syrisches Kind von ihren Fluchterfahrungen berichtet und in einem anderen Artikel um den Lebensalltag in einem Flüchtlingscamp. Die Geschichten wurden allesamt schön inszeniert und vorangetrieben. Aber reicht das schon für politisches Theater? Man nehme ein politisch aufgeladenes Thema, mehrere ausgewählte Medien dazu und überreicht alles zusammen einem hochkarätigen Cast und heraus kommt ein politischer Improtheaterabend?

Es war unpolitisch.

Ganz so einfach ging die Rechnung leider nicht auf. Denn es wurde schlichtweg nichts verhandelt. Es standen keine Fragen zur Diskussion und es wurden keine aufgeworfen. Es gab keinen Prozess einer Meinungs- oder Willensbildung, es wurde keine Forderungen und keine Veränderungen proklamiert. Es wurde kein gesellschaftspolitischer Konflikt etabliert, es gab keine Einsichten und keine Entwicklungen die außerhalb der Sphäre des persönlichen stattgefunden hätte. Kurzum: Es war unpolitisch.

Placetobe, Foto: Sören BollerDazu zwei Beispiele meiner ganz persönlichen Wahrnehmung aus den Szenen: Eine europäische Familie nimmt einen syrischen Jungen auf, der auf der Flucht von seiner Familie getrennt wurde. Bei der Ankunft rätseln die vier anderen Kinder der Familie, was wohl mit den Eltern passiert sei. Ganz im Stile ihrer Gute-Nacht-Geschichten erfinden sie eine Todesart nach der anderen, die den syrischen Eltern auf ihrem „Abenteuer“ widerfahren sein könnte. Ein Moment mit großem politischen Potenzial: Gelingt es auf die surrealen Unterschiede in unseren Gesellschaften hinzuweisen, in der die eine Seite gerade einmal genug Empathie aufbringen kann, um die traumatischen Erlebnisse der anderen Seite mit denen von Abenteuerhelden in Romanen zu vergleichen, die nur zur Unterhaltung der ersteren geschrieben wurden? Keineswegs. Gefühlt passiert sogar das Gegenteil: Während ich unruhig auf meinem Stuhl hin und her rücke, lacht sich mein Nachbar bei jeder neues Todesart mehr kaputt. Der Anflug von Reflektion und Selbstkritik wird vom Sog der nach eben dieser Unterhaltung ächzenden Gesellschaft augenblicklich erstickt und das Amüsement über die spontanen Fähigkeiten der Spieler ist groß. Mein Nachbar nimmt noch einen großen Schluck von seinem Longdrink und lacht weiter.

In einer anderen Szene sollen wir den Inhalt des bereits erwähnten Briefes über Flucht und Vertreibung hören, der über Generationen und Nationalgrenzen hinweg Menschen verbindet. Es werden Worte gesprochen: Ich habe alles verloren. Mein Haus ist weg. Mein Eigentum. Alles was ich hatte. Das Haus in dem ich aufgewachsen bin usw. Darüber hinaus geht es nicht. Es bleibt bei der Darstellung, ohne Kontroverse, ohne Kommentare.

Ein schöner, ein unterhaltsamer Abend

Schöne Momente hatte die Show dennoch und das auch nicht zu wenig. Ihre Stärke lag in den Charakteren. Besonders den beiden Spielerinnen Inbal Lori und Tess Degenstein ist es einmal mehr auf beeindruckende Weise gelungen, ihre Charaktere so vielseitig und wahrhaftig zu spielen, dass sie es vermochten das Publikum zu berühren, sowohl durch ihre Verletzbarkeit, als auch durch ihre Stärke und ihre Beharrlichkeit.

Insgesamt ein schöner, ein unterhaltsamer Abend, der durch die Spielstärke des Casts und die Ästhetik der Szenen überzeugen konnte, nur letztlich am eigenen Anspruch scheiterte, politisch zu sein. Haben wir bspw. die Wahlergebnisse des vergangenen Wochenendes im Kopf, so zeigt sich einmal mehr, wie dringend unsere Gesellschaft, ihre Kunst und ihre Unterhaltungsformen eine (Re)Politisierung nötig haben. Dass Die Gorillas dies erkannt haben und das Festival unter dieses Thema stellen ist ein beachtlicher und riskanter Schritt, der nicht hoch genug honoriert werden kann, auch wenn das Festival und seine Spieler hier scheinbar noch ganz am Anfang stehen.Placetobe Cast, Foto: Sören Boller

Thomas Jäkel
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