IMPRO 2010 – die Crumbs im English Theater

Foto: Marco

von Marco:

Für viele deutsche Fans sind sie seit Jahren der Inbegriff des “anderen” Improtheaters, abseits von Improspielen und auf den kurzen Gag hin gespielter Comedy: die Crumbs aus Winnipeg/Kanada. Im Rahmen der IMPRO 2010 gaben sie eines ihrer regelmäßigen Gastspiele im English Theater Berlin in Berlin-Kreuzberg. Für alle, die dieses Duo schon kennen und lieben: Es war eine typische Crumbs-Show, souverän und risikoreich gespielt von Lee und Steve, mit Musik aus dem Computer untermalt von DJ Hunnicutt. Neu war jedoch, dass DJ Hunnicutt zusätzlich zum Sound auch zur Szene passende Standbilder und Videos auf einen weißen Bühnenhintergrund zauberte. Dazu unten mehr.

Für alle, die die Crumbs noch nie live gesehen haben und die englische Sprache – in der die Shows stattfinden – halbwegs gut verstehen: unbedingt bei nächster Gelegenheit nachholen! Sie setzen mit ihrem Spiel den Maßstab für intelligentes und intensives Improtheater. Typischerweise spielen sie eine Langform im Stile eines wilden Harolds, der ähnlich wie ein Episodenfilm im Kino aufgebaut ist: Zunächst werden 2-4 Grundgeschichten mit unterschiedlichen Charakteren auf Basis von Publikumsvorgaben etabliert. Diese Geschichten werden dann im Wechsel weitergespielt. Manchmal verbinden sich zwei dieser Geschichten zu einem gemeinsamen Handlungsstrang, manchmal wird eine Geschichte gar nicht weitererzählt. Am Ende des Abends sind jedoch auf magische Weise sämtliche offenen Enden der einzelnen Geschichten zusammen geflochten, alle eingeführten Personen und Gegenstände haben ihren Sinn erhalten und man geht mit einer oder mehreren einzigartigen Geschichten nach Hause.

Foto: Stephan Holzapfel

Bei der Show am Montag waren die Publikumsvorgaben: ein Beruf – Bestatter; ein nicht-geografischer Ort – Brücke. Hieraus entwickelten sich zunächst 3 Geschichten: Ein Leichen-Bestatter, der einen jungen Lehrling in den Berufsalltag und den Umgang mit Leichen einführt. Ein altes Ehepaar – Mr. und Mrs. Havisham -, das auf viele gemeinsame glückliche Jahre zurückblickt und sich Gedanken darüber macht, was wohl geschieht, wenn einer von beiden stirbt. Ein Vater einer Flussmenschen-Siedlung, der seinem Sohn die uralte Bestimmung der männlichen Nachkommen der Gründer des Dorfes offenbart: Den großen Fluss zu überqueren oder beim Versuch zu sterben. Die Crumbs nehmen sich für die Einführung in die Geschichten sehr viel Zeit.

Geschichten 1 und 2 fließen zusammen, als Mrs. Havisham am Frühstückstisch stirb (herrlich leise und zart gespielt, wie der überlebende Mann den Tod seiner Frau bemerkt!) und der Bestatter aus Geschichte 1 die Begräbnisangelegenheiten übernimmt. Da Mr. Havisham nicht über genügend Geld für ein angemessenes Begräbnis verfügt, spricht er den bereits im Gespräch mit seiner Frau eingeführten Verehrer seiner Frau (der Nachbar aus dem 13. Stock – eine klasse schräge Figur mit schiefem Blick und unkoordinierten Bewegungen) an, der über eine Briefmarkensammlung mit einer wertvollen Marke verfügt. Hierbei lernt er jedoch die vermögende Schwester des ehemaligen Verehrers kennen, die sich in ihn verliebt und das Geld in Form eines Schecks bereitstellt. Seine tote Frau verwickelt derweil als Leiche den Lehrling des Bestatters, der zum Zwecke der Abhärtung von seinem Meister die Nacht über im Leichenschauhaus eingeschlossen wurde, in ein erotisches Zwiegespräch. Hieraus ergibt sich eine lustige Party, bei der alle Beteiligten viel Spass haben und der Lehrling seine Abneigung gegen Leichen überwindet und die Liebe für den Beruf entdeckt. Das ist auch gut so, denn der Meister, der bislang nach außen den Berufsethos hoch gehalten hat, trägt sich schon länger mit dem Gedanken, sein Geschäft aufzugeben und übergibt dies nun seinem ehemaligen Lehrling, um sich selber in die weite Welt zu verabschieden.

Geschichte 3 ist da etwas sperriger. Sehr lange (zu lange?) streckt sich der innere Kampf des Vaters um den bevorstehenden Versuch zur Flussüberquerung. Mit einem gewagten Sprung von einem über den Fluss gewachsenen Baum glaubt er den Fluss überwinden zu können und damit die seit Generationen auf der Familie lastende Aufgabe zu erfüllen. Der Sohn versucht ihn abzuhalten;  der Fluss versucht ihn zu locken, wie er auch schon alle seine Vorfahren gelockt hat. Am Ende springt er in sein Verderben, ohne je die Glück verheißende andere Seite des Flussufers erblickt zu haben. Mutter und Sohn bleiben verzweifelt zurück. Hier wird es vermutlich ein Geheimnis der Crumbs bleiben, warum der Sohn, der offensichtlich intelligenter ist als sein Vater, jetzt nicht endlich die 2. Vorgabe des Publikums einlöst und den Brückenbau erfindet, um sicher den Fluss zu überqueren (und dort angekommen vielleicht Lehrling eines Leichenbestatters wird…). Statt dessen wandert er flussaufwärts, findet die Quelle, überschreitet den Fluss an seiner dünnsten Stelle, nur um herauszufinden, dass es auf der anderen Seite des Flusses genauso aussieht wie auf der seines Dorfes.

Foto: Stephan Holzapfel

Alles in allem ein Abend mit düsteren Themen und mehreren Toten. Hier werden jedoch auch die Stärken der Crumbs deutlich sichtbar: Sie nehmen ihre Figuren ernst; leiden, hoffen und lieben mit ihnen. Geradezu unerträglich intensiv der Schmerz des Mannes, der seine friedlich auf dem Küchenstuhl gestorbene Frau liebevoll von hinten hält und das vorher im Gespräch aufgebaute Szenario jetzt live durchlebt. Dazu die Liebe der Crumbs zum Detail: kaum ein noch so klein eingeführter Umstand geht verloren, fast alles spielt später noch einmal eine Rolle. Dieser bekannte Umstand führt dazu, dass sich die Zuschauer nach der Show den Spass machen, trotz aller Perfektion kleine Fehler zu finden (Ergebnis dieses Mal: z.B. wurde der Schlüssel beim Öffnen der Tür in dieselbe Richtung gedreht wie beim Verschließen).

Ein Geheimnis der Crumbs liegt meiner Meinung nach in ihren intensiven, gerade im Gegensatz zu anderen Improgruppen eher langsamen Dialogen, während der sie allerdings durch ihren innigen Bezug zu den Figuren ständig eine große Spannung halten. Dadurch wird das Spiel intensiv,  Akzente werden klar gesetzt. Dazu kommt eine große Ruhe, etwas einmal Etabliertes durch weitere Erwähnung groß und immer größer zu machen. So geht keine Information verloren, sondern wird fest in der Geschichte verankert. Aufgelockert wird dies zwischendurch immer wieder auch durch (verbal) schnelle Szenen, bei denen sich beide Spieler die Sätze nur so um die Ohren zu hauen scheinen; hier wird deutlich, dass beide schon seit mehr als 10 Jahren ein Team auf der Bühne sind. Kleine während des Spiels gefundene Running Gags, wie z.B. der Vater, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit gewollt unglaubwürdig versichert, dass bei Zeugung und Geburt des Sohnes alles “ordentlich und mit rechten Dingen” (“after the book”) zugegangen sei, sorgen trotz ernsthaften Spiel immer wieder für Lacher im Publikum.

Foto: Stephan Holzapfel

Als etwas unnötig und teilweise sogar störend habe ich die Hintergrundbilder und -videos empfunden. Da wo sie halbwegs passten (z.B. die Küche von Mr. und Mrs. Havisham oder der Leichensaal), lieferten sie meines Erachtens keinen großen Mehrwert, da die Crumbs mit ihrem Spiel keinen Zweifel ließen, an welchem Ort man sich gerade befand. Wenn die Bilder mal nicht so ganz passten (z.B. Video eines Strandes mit Palmen zur Fluss-Szene) irritierte das Ganze mehr, als dass es Atmosphäre schaffte. In keinem Fall hatte ich den Eindruck, dass die Spieler von der Kulisse inspiriert wurden. Ich bin gespannt, ob sich die Crumbs hier noch weiterentwickeln. Interessant in diesem Zusammenhang könnte ein bereits geplanter Auftritt der Crumbs in dem von dem Berliner Duo Zwiebelfisch entwickelten Format Improjektion werden: Bei Improjektion werden während der Szene gezeichnete Kulissen und Gegenstände auf den Bühnenhintergrund projeziert (siehe auch die Rezension zu Improjektion auf Impro-News). Der Zeichner kann dadurch als eine Art zusätzlicher Spieler eigene Impuls für die Szene setzen. Improjektion mit den Crumbs und Zwiebelfisch gibt es am 12. Mai 2010 im Studio 70 in Berlin zu sehen (weitere Infos).