Lukas in China #3 – der schwierige Umgang mit Emotionen

Lukas Maier ist Komponist, Pianist und Impromusiker in München, spielt unter anderem für fastfood theater und Bühnenpolka und war Anfang 2017 für über 3 Wochen in China unterwegs. In seinem exklusiven Reisebericht für Impro News erzählt er über seine Erlebnisse mit der Improtheaterszene im Reich der Mitte.

Bereits drei Tage nach Tobias und meiner Ankunft in China hatten wie den erste Workshop war mit Sarahs Gruppe Channel 21. Eine sympathische und motivierte, aber anfangs noch zurückhaltende Mannschaft aus acht Schauspielerinnen und Schauspielern. Der Anteil chinesischer Mitglieder lag in dieser Gruppe bei überdurchschnittlichen 50 Prozent. Wie mit Sarah vorab besprochen, haben wir uns nach einem kleinen Warm-Up und Kennenlernkreis Improübungen zugewandt, die der Gruppe helfen sollten, einen positiven und leichten Einstieg in die Welt der musikalischen Improvisation zu finden. Alle Anwesenden hatten wenig bis gar keine Vorerfahrungen betreffend improvisierten Gesangs oder filmmusischer Begleitung im Hintergrund.

Kunstrasenrolle im Altargang

Wir begannen mit einem „Bienenschwarm“, in dem sich das Ensemble zu unterschiedlichen musikalischen Stimmungen pantomimisch durch den Raum bewegen durfte. Mal schwer, mal leicht, schnell oder langsam, euphorisch sowie betrübt. Ich war erstaunt, wie stark alle Teilnehmenden bereit waren, sich meiner Musik nach nur kurzer Beschnupperung voll und ganz hinzugeben. Vor allem die zwei noch eher zurückhaltenden Chinesinnen Jill und Joan bewegten sich im Puls, schlossen die Augen und schienen alles um sich herum ausblenden zu können.

Wir gingen über in Scene Painting, um unsere Kreativität weiter herauszufordern. Die Akteure statteten verschiedene Räume mit Hilfe pianistischer Untermalung aus und spielten darin kurze Szenen. Meiner spontanen (und in dem Moment unüberlegten) Vorgabe, eine Kirche auszugestalten, folgten witzige Vorschläge seitens der Spielerinnen und Spieler. Während wir Westliche uns über unsere vergleichsweise nichtigen konfessionellen Unterschiede amüsierten, rollte Tao aus Suzhou kurzerhand eine Kunstrasenrolle im Altargang aus. Er war eigentlich noch nie in einer Kirche und assoziierte angelehnt an Klostergärten irgendwie mit Pflanzen und Wiesen. Daraufhin kamen wir in dieser Szene sprichwörtlich auf keinen grünen Zweig mehr und brachen in schallendes Gelächter aus. Auf humorvolle Art wurde mir vergegenwärtigt, dass andere Menschen mir so Selbstverständlichem in ihrem Alltag noch nie begegnet seien. Impro als Mittel kultureller Annäherung hat sich hierbei als hilfreich erwiesen.

Himmelhochjauchzend oder unerträglich traurig

Es war total toll zu beobachten, wie sie das Arbeiten mit Musik genossen, wie sehr es ihnen half, in die Emotionalität zu finden und wie sehr sie sich danach über ihr Erfolgserlebnis freuten. Manchmal fiel mir während der Zusammenarbeit mit chinesischen Improschauspielerinnen und -schauspielern jedoch sowohl eine Art Schwarz-Weiß-Denken als auch das Phänomen des „Overacting“ auf. Ich vermisste hin und wieder ein differenzierteres, perspektivenreicheres Herangehen an die Probleme oder Situationen, mit denen sie in den Proben und Auftritten konfrontiert wurden. Während dies westlichen Spielerinnen und Spielern einfacher gelingen mochte, klammerten sich die chinesischen lieber an konkrete Stimmungen oder Ausgangslagen. Sie freuten sich also entweder himmelhochjauchzend oder waren unerträglich traurig. Orientiert an emotionalen Superlativen gab es wenig weitere Unterteilungen wie unbeschwert oder hoffnungsvoll, verzweifelt oder eifersüchtig. Gerade die Emotionen, die uns einen tieferen Einblick in das Innenleben und den Charakter der gespielten Person ermöglichen, die eine weitere Ebene eröffnen sowie unsere selbsterlebten Bedürfnisse spiegeln, fehlten mir oft. Also all diejenigen, die die Kunstform Schauspiel essentiell und authentisch machen. Ich denke, diese Beschreibung lässt sich grundsätzlich bei Improamateuren in Anfängerkursen beobachten, aber in China sollte man auch die entsprechende kulturelle Sozialisation nicht außer Acht lassen.

Deshalb möchte ich eine nicht direkt vergleichbare, aber interessante Querverbindung zur weltweit bekannten Peking-Oper schaffen. Die Peking-Oper ist eine Form der chinesischen Oper, die viele künstlerische Elemente wie Singen, Tanzen und Kampfkunst miteinander vermischt. Während die Ausstattung und das Bühnenbild eher spärlich gehalten wird, ist die Performance reich an pantomimischen Darstellungen und prächtigen Kostümen. Die Gesichter sind meist stark geschminkt oder werden durch kunstvolle Masken ganz verdeckt. Zusammen mit eher überzeichnetem Schauspiel sollen diese Kostümierungen dabei helfen, die verschiedenen Gefühlslagen der zu spielenden Charaktere zu vermitteln. Das junge Mädchen ist beispielsweise sehr traurig und bedrückt, da ihr Geliebter sie verlassen hat. Dabei wird ihr seelischer Schmerz mit dramatischen Gestikulierungen unterstrichen. Oder der tapfere Krieger freut sich über einen gewonnen Schwertkampf und springt vor Glück schreiend und jauchzend über die Bühne. Viele Emotionen werden in dieser Theatergattung in meinen Augen sehr übertrieben dargestellt, dass es zumindest auf mich oftmals einen karikierenden Eindruck hinterlässt.

Workshop Suzhou
Workshop Suzhou

Wut öffentlich zuzulassen, ist in China ein absolutes No-Go.

Im Gegensatz dazu ist es in der chinesischen Gesellschaft seit Jahrhunderten verankert, starke und unbeherrschte Emotionen zu verbergen. Für den chinesischen Improneuling Peter, war es laut einer Erzählung von Sarahs Partner Kai schwer vorstellbar, in die Rolle einer rasend wütenden Person zu schlüpfen. Auch nach wiederholten Versuchen mit vielen Hilfestellungen, Tipps und Demonstrationen der westlichen Kolleginnen und Kollegen schien Peter damit nichts anfangen zu können. Eine Spur von Verärgerung konnte man ihm zwar mit der Vorstellung abgewinnen, sein nagelneues Auto mit einem Baseballschläger zu frisieren, aber Peter rechtfertigte sich nur ernüchternd damit, dass er sich das eben abgewöhnt habe.

Wut öffentlich zuzulassen, ist in China ein absolutes No-Go. Dabei verliert man sein Gesicht. Auch als westliche Person setzt man sein Ansehen aufs Spiel, wenn man sich in ihrer Anwesenheit nicht disziplinieren kann. Beide Einfügungen, der Exkurs in die Peking-Oper und der gesellschaftliche Verweis auf das „Faceloosing“, könnten mögliche Erklärungen für ihre Schwierigkeit sein, auch im Kontext Improvisationstheater einen entschlossenen und selbstsicheren Umgang mit Emotionen zu finden.

Umso schöner war daher die Beobachtung, wie sehr sie die musikalische Unterstützung annehmen wollten und konnten, wie sehr sie sich immer weiter öffneten und wie viel mehr Tiefe ihnen Stück für Stück gelang. In kurzen Feedback-Runden nach den gespielten Szenen war ihnen ihr Stolz und ihre Begeisterung anzusehen. Am Ende der Probe wurde dann einstimmig beschlossen, dass auch sie für ihre Gruppe in Suzhou nun auf die Suche nach einer musikalischen Begleitung gehen wollten. Das hat mich persönlich natürlich sehr gefreut und wieder in meiner Überzeugung bestärkt, dass eine Musikerin oder einen Musiker für jede Improgruppe einen großen Mehrwert bedeuten kann. Ich hoffe, dass meine Kolleginnen und Kollegen in Suzhou ihre Musikersuche schon bald erfolgreich abschließen und weiterhin in den Genuss von musikalischer Improvisation kommen können.

Wird fortgesetzt…

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Die Redaktion