IMPRO 2016: Streicheleinheiten und “Her men”

Internationales Festival Impro 2016 Berlinvon Dan Richter:
BERLIN – Im für eine Mini-Spezial-Show recht ordentlich gefüllten Ratibor-Theater präsentierten Gilly Alfeo und Ben Hartwig ihre Show „Streicheleinheiten“. Das Format blieb unerklärt, sprach aber durch den höchst suggestiven Titel wiederum für sich: Wann berühren wir uns? Wann finden wir Nähe? Wann vermeiden wir sie?

Vorgaben sind wie Streusel auf dem Eis

Formal gesehen lief das Stück auf eine kleine Heldenreise hinaus. Auf den Vorschlag „Tagebuch“ assoziierten die beiden ausführlich und recht unterhaltsam, ohne dass der Vorschlag selber jedoch eine sichtbar inspirierende Bedeutung für die Szenen gespielt hätte, was zu der alten Frage führt, ob wir im Improtheater überhaupt Vorschläge brauchen. Ich bin mir sicher, die Show wäre ohne den Vorschlag genauso gut gelaufen. Natürlich spürt man als Zuschauer eine kleine Extrafreude, wenn dann in irgendeiner Szene ein Tagebuch auftaucht. Aber wenn der Vorschlag nicht Ausgangspunkt der Improvisation ist, kann man ihn auch genauso gut weglassen. Es ist wie mit den bunten Streuseln auf dem Eis: Man freut sich über sie, aber man vermisst sie auch nicht.

Ein tänzerisches Gefühl für die Möglichkeiten der Bühne

Die Haupt-Inspiration für Gilly & Ben war ohnehin die Musik, die sie als Sequenzer-Schleifen von einer Tablet-App starteten. Sehr schön, den beiden zuzusehen, wie die Intensität der Szenenanfänge durch die sehr lebendig klingende Musik verstärkt wird und die Szene von dort ihren Lauf nimmt. Das Duo spielt wunderbar zusammen. Jede Szene wirkt für sich durch ruhige Kraft. Egal wie weit weg der Stein geworfen wird, man hat das Gefühl, die beiden vertrauen darauf, alles zu einem sinnvollen Ganzen weben zu können. Kein Satz geht verloren, keine Geste verliert ihren Sinn. Während Gilly sich an der Hauptfigur abarbeitet, hält Ben die Story mit seinen wunderbar klaren Nebenfiguren zusammen. Die beiden benutzen die Bühne, als wären sie hier zuhause, fast möchte man sagen, sie haben ein tänzerisches Gefühl für die Möglichkeiten des schwarzen Ratibor-Kastens.

Sequenzer-Schleifen und Timing

Und da kommen wir zum kritischen Punkt: Das Ganze zieht sich dann doch ziemlich in die Länge. Wir wissen, dass sich auf der Improbühne die Zeit anders anfühlt als im Publikum. Und bei Gilly & Bens Streicheleinheiten wäre es wohl vermeidbar gewesen: Erstens ermüden die Sequenzer-Schleifen; im Gegensatz zu einem Live-Musiker ändert sich die Musik nicht mit der emotional-dramatischen Wendung. So verpufft mancher geniale Satz und mehr noch, die kongeniale Reaktion auf den Satz im nicht aufhörenden Gedudel, und man glaubt fast, jemand an der Bar habe vergessen, den CD-Player auszustellen. Zweitens, die Bühnennutzung wird konterkariert durch das immergleiche Zeitmaß. Ruhe ist schön, aber irgendwann braucht man als Zuschauer auch den Wechsel. Einem Andante-Satz sollte irgendwann das Allegro folgen. Nicht zwangsweise, aber wenn man eine gute Stunde am Stück spielt, braucht man gute Gründe, das Tempo nicht zu wechseln. Die fünf Jugendlichen, die fünf Minuten vor dem erwartbaren Ende das Theater verließen, konnte ich, so leid es mir für Gilly & Ben tat, verstehen. Womit wir beim dritten Punkt wären – dem Story-Timing. Das Ende einer Geschichte muss rasch oder überraschend erzählt werden, sonst weiß der Zuschauer schon, was kommt und wartet nur noch ab, bis sich die Improvisierer ausgemärt haben. Man erkennt die Angst des Improspielers vor der Konfrontation oft an geschlossenen Fenstern und Türen, an plötzlichen Verkrüppelungen und „Ich-bin-am-Boden-festgeklebt“-Szenen. Bei Gilly & Ben muss der Held (wir sind schon seit über einer Stunde im Stück) auf dem Weg zur finalen Konfrontation mit dem Vater noch einmal an der türhütenden Sekretärin vorbei, dann funktioniert auch noch der Schlüssel nicht, und schließlich sehen wir im Prinzip eine variierte Wiederholung der Vater-Sohn-Szene von vor einer halben Stunde.

Aber ihr untrügliches Story-Gefühl lässt Gilly & Ben nicht im Stich. Sie gehen das Risiko ein, noch eine Epilog-Szene anzuhängen, in der sich Mutter und Sohn vertragen. Und wenn die Scheinwerfer das letzte Black eindimmen und wir die beiden einander die Streicheleinheiten geben sehen, freuen wir uns über ein schönes, versöhnliches Impro-Erlebnis.

Her men

Für die zweite Hälfte luden sich die beiden Tess Degenstein und Rama Nicholas ein. Eine weise Entscheidung. Die beiden bringen ordentlich Schmackes auf die Bühne. Das Format „Her men“ könnte man im Grunde als ein fast banales Impro-Game beschreiben: Wir sehen die Biographie einer Frau aus der Perspektive, wie sie mit Männern interagiert – nicht nur die Liebes-Beziehungen, sondern auch ihr Großvater, ein jugendlicher Fan und ihr Vater spiegeln ihr Leben. Jetzt könnte man die den legendären Bechdel-Test herausholen und feministisch inquirieren, ob denn Frauen in einer Story nur auftauchen dürfen, wenn sie über Männer reden. Aber die darstellerische und erzählerische Kraft von Tess Degenstein wischt diese Bedenken vom Tisch. Ihre Figur Samantha ist kein Übermensch, sie leidet und ist aktiv, sie begeht Dummheiten und lernt aus ihnen. Aber nie hat man das Gefühl, dass sie sich nur über ihr Verhältnis zu Männern definiert.

Als sei das Format für Tess allein geschaffen worden

Tess Degenstein nimmt sich den Raum und die Zeit und füllt dieses einfache Format aus, als sei es für sie allein geschaffen worden. In einer kurzen Szene sehen wir sie als Elfjährige; und wer improvisierte Kinder-Darstellungen kennt, kann nachvollziehen, wie sehr ich ihr in diesem Moment die Daumen drücke, dass das ja gut geht. Natürlich braucht sie mein Daumendrücken nicht. Sie spielt die Elfjährige so bestimmt, so genau, so handlungsmächtig und gleichzeitig so verletzlich und glaubwürdig, wie ich es nur selten auf einer Improbühne erlebt habe. Man glaubt, in der elfjährigen Samantha die elfjährige Tess zu sehen.

Klarheit, Intelligenz und Eloquenz

Und dann kommt der Impro-Moment des Abends: Unmittelbar darauf springen wir in der Zeit, und es soll die 84jährige Samantha gezeigt werden. Tess spielt eine Greisin, als hätte sie die Pensionierung schon lange hinter sich. Ihr Gesicht zeigt die Erfahrungen, die Verletzungen und die Güte eines alten Menschen, der weiß, dass er nicht mehr viel vor sich hat, aber immer noch lebenshungrig ist. Ist das dieselbe Schauspielerin, die eben noch in der Figur eines Kindes über die Bühne getollt ist? Rama Nicholas und Tess Degenstein lassen die Bühne mit ihrer Klarheit, Intelligenz und Eloquenz vibrieren. Es ist Gilly & Ben hoch anzurechnen, dass sie sich nicht in diese magischen Momente gedrängelt haben, sondern sie mit klitzekleinen Nebenfiguren erst ermöglicht haben. Und so wurde die halbe Stunde „Her men“ die schönste Impro-Aufführung der letzten zwei Jahre. Ich werde noch lange davon zehren.

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