KIF 2011: Kolektiv Narobov präsentiert „Call“ – Die überraschende Poesie der Telefonbücher

Von Heike Reissig

Am 14.04. gab es beim 6. Kölner ImproFestival eine Aufführung zu sehen, die ein wenig aus dem übrigen Programm fiel: Das slowenische Ensemble Kolektiv Narobov präsentierte im Klüngelpütz Theater sein Improtheater-Format „Call“ in englischer Sprache.

Der Titel „Call“ war Programm: Beim Eintreten in den Theatersaal fielen sofort die vielen slowenischen Telefonbücher ins Auge, die nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Zuschauerraum an langen Schnüren von der Decke herabhingen. Während der Show ließen die beiden Darstellerinnen Maja Dekleva Lapajne und Sonja Vilč sich beim Improvisieren vom Klang zufällig aufgeschlagener und laut vorgelesener Namen inspirieren, um so im Laufe des Abends etwa 20 verschiedene Figuren auf der Bühne zum Leben zu erwecken und den Zuschauern einen kleinen Einblick in deren Alltag und Schicksale zu gewähren.

Kolektiv Narobov. Foto: H. Reissig

So erzählt Korohica Marolein, eine von Maja verkörperte schüchterne Fahrkartenkontrolleurin, dass sie manchmal Fahrgästen, die ihr wirklich sympathisch sind, das Ticket nicht entwertet, damit sie es noch einmal benutzen können.

Oberlindner Michaela, eine von Sonja verkörperte berühmte Diva, berichtet empört von einem wenig schmeichelhaften Zeitungsartikel, der über sie geschrieben wurde und steigert sich dabei immer mehr in gnadenlose Rachephantasien.

Nevenka Homer, verkörpert von Sonja, erklärt, dass er nun zum dritten Mal versucht, den Anapurna zu besteigen: Er hat wirklich alles versucht, um zu Gipfel zu gelangen, er hat abgefrorene Finger und Zehen ebenso in Kauf genommen wie das Aufgeben seines Expeditionsteams; er ist allein weiter gekraxelt und er wird jetzt, nur noch wenige Meter vom Gipfelkreuz entfernt, auf gar keinen Fall aufgeben, auch wenn er nicht mehr kann; er wird dort so lange harren, bis das Felsgestein seiner Anwesenheit so überdrüssig ist, dass es zu Staub zerfällt und ihm endlich den Weg freigibt.

Kolektiv Narobov. Foto: H. Reissig

Manchmal verkörperten Maja und Sonja auch zwei Figuren gleichzeitig, die von einem gemeinsamen Erlebnis erzählen. So beginnt zum Beispiel Litrop Irma davon zu berichten, dass ihre Nachbarin Winter Martina uneingeladen auf ihrer Party erschien, was ihr furchtbar unangenehm war. Die wiederum erzählt davon, wie begeistert sie von der Party und ihrer Nachbarin war. Aus Sicht beider Figuren wird dann abwechselnd der Hergang der Party erzählt. Wie sich herausstellt, lief sie für Litrop Irma völlig anders als erwartet: Ihr Bericht endet damit, dass sie ihre Nachbarin nach einer gemeinsamen Nacht morgens mit einer Tasse Kaffee weckte.

Klänge, Rhythmen und Berührungen als Inspirationsquellen

Maja und Sonja ließen das Publikum unmittelbar am Entstehen der Figuren teilhaben. Eine von ihnen nahm sich ein Telefonbuch, schlug irgendeine Seite auf und las daraus einen Namen und eine Telefonnummer vor. Dann wiederholte sie diesen Namen mehrere Male und ließ sich vom Klang inspirieren. Ihre Bühnenpartnerin gab ihr dabei ständig weitere Inspirationen und benutzte dabei verschiedene Mittel. Eines davon war Musik – entweder wurde spontan eine Melodie auf dem Bühnenklavier oder ein Instrumentalstück vom Laptop gespielt. Ein anderes Mittel war die Kontaktimprovisation, d. h. die Inspiration geschah durch körperliche Berührungen. Zum Beispiel legte eine Darstellerin ihrer gerade eine Figur verkörpernden Spielpartnerin eine Hand auf die Schulter; die Spielpartnerin ließ diese Berührung dann auf sich wirken und reagierte ihren spontanen Empfindungen entsprechend.

Kolektiv Narobov. Foto: H. Reissig

Maja und Sonja gönnten sich einen Luxus, der im oft tempogepeitschten, von oberflächlicher Darstellung geprägten Improvisationtheater eher unüblich ist: Sie nahmen sich Zeit, um ihre Figuren und Geschichten zu entwickeln. Und das Beste daran: Es war keine Sekunde langweilig, ihnen bei diesem faszinierenden Prozess zuzuschauen. Im Gegenteil: Auf diese Weise entstanden sehr authentische Szenen, die oft überraschend komisch waren, manchmal auch tragisch und immer berührend.

Eine der stärksten Szenen des Abends begann mit dem Namen Koos Anica. Maja spricht ihn mehrmals aus, lauscht dem Klang, beginnt den Namen mit emotionaler Stimme auszusprechen und sich beschwingt und leicht tanzend dazu zu bewegen. Sonja reagiert, indem sie Gute-Laune-Musik einspielt. Majas Figur berichtet voller Freude von ihrem zweiten Arzttermin, wie sie im Wartezimmer saß, sich darauf freute, das nächste Ultraschallfoto von ihrem ungeborenen Baby zu sehen und es kaum erwarten konnte, endlich aufgerufen zu werden. Endlich ist sie im Untersuchungszimmer und die Ärztin macht die Ultraschalluntersuchung. Wir hören weiterhin die beschwingte Musik. Dann erzählt Majas Figur, was die Ärztin als nächstes sagte: Sie höre keinen Herzschlag mehr. Majas Figur friert ein, im Schock, ihre ganze Freude ist mit einem Mal verschwunden. Wir sehen eine junge Frau, die wortlos ganz langsam zusammenbricht. Doch die beschwingte Musik läuft weiter, immer weiter, erbarmungslos. Die Szene endet in einer stillen Kontaktimprovisation beider Darstellerinnen. Selten hat mich Improvisationstheater so berührt wie in dieser Szene.

Schade, dass das Theater nur zur Hälfte gefüllt war, denn diese Show bot wirklich Improvisationskunst vom Allerfeinsten. Wer die Chance hat, „Call“ in Deutschland oder anderswo zu sehen, sollte sie sich auf keinen Fall entgehen lassen. Nicht umsonst wurde Kolektiv Narobov bereits mit verschiedenen Preisen geehrt. Zuletzt erhielt das Ensemble für „Call“ den Improkal auf der Impronale 2010 in Halle.